Zerbrechlichkeit

Die Bayerische hoch. Olivaer Platz. Und weiter zum Kurfürstendamm 185/Wielandstraße 23. Ein weißer Mietpalast mit Wohnturm als definierendem Bauteil. Wir kommen oft hier vorbei, denn es ist unser liebstes Haus in der Straße. Vieles, was uns in der Vergangenheit zum wilhelminischen Mietshaus eingefallen ist, haben wir versucht, an diesem Gebäude festzumachen. Nur das Wenigste hat gehalten. In der Folge ist die Fassade derart mit verworfenen Ideen verschüttet, dass es uns schwerfällt, unsere Gedanken zu ordnen.

Kurfürstendamm 185

Versuchen wir es doch: Was uns jedes Mal von neuem fasziniert, ist, dass die Fassaden zu beiden Seiten des Turms zwar nahezu identisch aufgebaut sind, aber sich deutlich im Grad ihrer Plastizität unterscheiden. Während die Erker in der Wielandstraße im ersten Obergeschoss enden, reichen die weiter auskragenden am Ku‘damm bis ins Erdgeschoss hinab. (Chor der Architekten: „Man spricht dann von Ausluchten!“)

Diese auffällige Asymmetrie hat uns auf die Idee gebracht, die beiden Längsfassaden als unabhängige Gebäude anzusehen, die mittels des Turms eher wie durch ein rein funktionales Gelenkstück verbunden sind. Doch nichts läge ferner. Denn anders als beispielsweise beim Bode-Museum funktionieren die Fassaden nicht als eigenständige Baukörper. Dazu sind Erker und Ausluchten zu weit in Richtung des Turms verschoben, sodass sie mit ihrem ungleichen Gewicht optisch auf diesem lasten. Dadurch scheint sich das Gebäude immer ein wenig nach links zu neigen, ganz so als habe es Schlagseite. Fast wirkt es auf uns wie ein überstolzes Segelschiff, das, würde man es je zu Wasser lassen, krachend in sich zusammenfiele.

Diese Asymmetrie ist typisch für sämtliche Eckbebauung am Ku‘damm. Nur fällt sie nirgends so deutlich ins Auge, entweder weil die Ecke schwächer betont ist, wodurch die beiden Fassaden ineinander übergehen (Kurfürstendamm 186), oder weil die Ecke so sehr dominiert, dass die Längsfassaden hinter sie zurücktreten (Kurfürstendamm 59). Der Bürokrat in uns führt dies gern auf die zeitgenössische Bauordnung zurück. Sie bestimmte, dass Auskragungen jeglicher Art im ersten Obergeschoss zu enden hatten. Ausnahmen gab es nur für repräsentative Boulevards wie den Ku‘damm. Mehr noch: Was in den Seitenstraßen verboten war, wurde hier zur Norm.

Neuerdings finden wir jedoch gefallen an der Idee, dass sich die Fassaden dem repräsentativen Rang der jeweiligen Straße unterordnen. Demnach granulierten die feinen Unterschiede, mittels derer das Bürgertum um Distinktionsvorsprünge eiferte, die architektonische Integrität des Gebäudes. Was auf den ersten Blick wie ein solider Baukörper erscheint, zerbricht bald in zwei Adressen, die bedeutsamere: „Kurfürstendamm 185“ und die weniger repräsentative: „Wielandstraße 23“. So erblicken wir in der Zerbrechlichkeit ausgerechnet dieser hochherrschaftlichsten Architektur ein Spiegelbild für die stets bedrohte Ehre der großbürgerlichen Familie um 1900.

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