Auskehrung

Das Niemandsland zwischen Neukölln und Alt-Treptow: Anderorts wurde Berlin zerstört, hier wurde es nie fertig gebaut. Inmitten des Wildwuchses aus löchrigen Blockrändern und Zeilenbauten der ersten Stunde klaffen Brachflächen auf, die durch die Sperranlagen der DDR konserviert und ausgeweitet wurden. Sie bieten dem rätselnden Städtebau unserer Tage nur unstete Anhaltspunkte und so kommt es, dass die Suche nach einer zeitgenössischen Architektur hier noch sprunghafter vonstattengeht als anderswo.

Heidelberger Straße 15-18

In der Heidelberger Straße 15-18 unmittelbar am Mauerstreifen verlangsamen diese fast fertigen Mehrfamilienhäuser unseren Schritt. Sie entstanden nicht auf freier Fläche, sondern ersetzen zwei vierstöckige Laubenganghäuser aus den Sechzigerjahren. Als wir zuletzt hier vorbeikamen, erfreuten wir uns noch an diesen randständigen Gegenentwürfen zum Springerturm. Denn ähnlich wie beim goldenen Guckkasten in der Kochstraße muss ihrem Schöpfer die Vorstellung gefallen haben, dass die Bewohner seiner Häuser deren Laubengänge dazu nutzten, um den Grenzsoldaten im Todesstreifen nachzustellen.

Wie die Laubenganghäuser reihen sich die Neubauten in eine Anlage funktionalistischer Wohnscheiben aus den sehr späten Zwanzigerjahren ein, als deren ideologische Erben sie sich inszenieren. Dazu nähern sich die Gebäude ihren Wahlverwandten maximal an, indem sie deren überholte Gliederung in eine Nutz- und eine Wohnfassade nachahmen. So sind den kargen, durch regelmäßige Fensterachsen strukturierten Fronten zerklüftete Rückseiten mit ausladenden Balkonen gegenübergestellt.

Diese Balkone sind es, die uns an der Aufrichtigkeit der Neubauten zweifeln lassen. Fast fühlen wir selbst uns von ihnen bedroht, dabei richten sie sich mit ihrer stumpfen Umarmung allein an die zurückhaltenden Vorbilder. Aber nicht wie Gesten des Entgegenkommens oder der Angleichung wirken die Balkone auf uns, sondern wie übergriffige Auskehrungen der Innenräume in die gemeinschaftliche Freifläche zwischen den Gebäuden. Anstatt sich dem halböffentlichen Programm dieses Zwischenraums zu fügen, stoßen sie mit ihren privatistischen Balkonen in ihn vor.

Auch ist diese geheuchelte Offenheit nur die Kehrseite der nahezu fortifizierten Fronten. Während sich die Laubenganghäuser tatsächliche gegen eine Grenze behaupten mussten, versuchen die Neubauten selbst eine Grenze zu ziehen. Nur ist der Feind, der diesen Fassaden eingeschrieben ist, keine böse Ideologie, sondern wir selbst sind es, vor denen sich das Gebäude versperrt. Von dieser Erkenntnis getroffen, senken wir unseren Blick und gehen weiter. Die Bewegung lockert unseren Zorn: Ist es nicht zuletzt unser eigenes, faules Wohnbegehren nach Intimität und Vereinzelung, das die guten Anfangsabsichten dieses neofunktionalen Ansatzes korrumpieren lässt?

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