Wir sind es gewohnt, tagtäglich durch dieselben Straßen zu laufen und demselben Putz an denselben Wänden beim Ergrauen zuzusehen. Vieles nehmen wir dabei wahr, ohne hinzuschauen. Selten richtet sich ein neues Gebäude vor uns auf, noch seltener wird ein altes dafür niedergelegt. Beides ist uns meistens gleich. Doch manchmal, manchmal erkennt ein Bau, dem wir oft genug Auge und Ohr zu öffnen bereit waren, unseren fragenden Blick und erzählt uns etwas von seinem Sein und Wirken. So erleben wir das Neue nicht in der Fremde, sondern im Vertrautesten. Nichts liegt uns daher ferner, als uns an einer Reise zu versuchen. Hotels begegnen wir stets mit Skepsis. Und doch erregt eines neuerdings unsere Neugier. Es handelt sich um das Motel One am Alexanderplatz, Grunerstraße 11.
Was berührt uns daran? Sicher ist es nicht seine schöne Gestalt: Zwei grobschlächtig gestapelte Kisten, die an keiner Stelle über ihr bloßes Vorhandensein hinausweisen. Dazu ein paar frostfarbene Lichtschlieren, die so tun, als wollten sie den stummen Fensterscharten zu einem Ausdruck verhelfen. Nirgendwo zeichnet sich ein logischer Zusammenhang ab. Wir haben es also mit einer Architektur der Zahlen und nicht der Formen zu tun: 19 Stockwerke, 708 Gästezimmer, 25 557 m2 Fläche. Die Scharmlosigkeit, mit der uns das Gebäude seinen nackten Zweck offenbart, fesselt uns: Der Bau ist, was er ist und will genau das sein.
Doch warum versteckt sich diese urbane Großform ausgerechnet hinter dem irreführenden Begriff des „Motels“? Im amerikanischen Film haben wir das Motor-Hotel als Unterschlupf manches Flüchtigen kennengelernt. Viele von ihnen fanden hier den Tod; zur Ruhe kam keiner. Denn die invertierte Architektur des Motels verwies sie auch dann noch auf die Außenwelt, wenn sie eigentlich in den Schlaf entfliehen wollten. Ohne einen innenliegenden Gebäudekern fehlt den von außen erschlossenen Zimmern jene halböffentliche Zone, die den Übergang zwischen dem privaten Ruheraum und der unheimlichen Umgebung dämpft. Dadurch bleibt dem Schlafenden allein eine dünne Tür als einzige Barriere zur Fernstraße. So sieht eine Architektur aus, die dem Kommen und Gehen mehr Bedeutung beimisst als dem Bleiben.
Zumindest den unsteten Ort teilt sich das Motel One mit seinem Namenspatron. Denn auf den ersten Blick können wir die achtspurige Grunerstraße nicht von einem Highway unterscheiden. Zwar stoßen wir hier auch auf die Ruine der Franziskaner-Klosterkirche und das imposante Landgericht, doch sind diesen Denkmälern zwei monumentalere Parkhäuser als gleichberechtigte Architekturen gegenübergestellt. Zwischen diesen entrückten Antipoden erodiert der städtische Raum zur reinen Transitzone.
Wir haben es nicht leicht, uns in diesem weitläufigen Ensemble an etwas zu binden. Angetrieben vom Rauschen der Autos springt unser Blick von Haus zu Haus und findet doch keinen Halt. Wir verspüren große Lust nachzugeben und uns vom Verkehr in einen angenehmeren Teil der Stadt mitreißen zu lassen. Wen es hierher verschlagen hat, der möchte insgeheim woandershin. Gilt dies auch für die Hotelgäste? Vielleicht sind es Geschäftsleute, die lieber zu Hause bei ihren Familien wären, Kurzurlauber, die mit ihren Gedanken schon wieder bei der Arbeit sind, oder jene rastlosen Geister unserer Zeit, die auf der Jagd nach dem reinen Erlebnis in serieller Manier die Städte dieser Welt durchkämmen.
Während wir den Impulsen dieses Ortes ausgesetzt sind, fällt uns auf, dass die Lichter im Hotel annähernd so schnell an- und ausgeschaltet werden, wie die Autos die ihrigen an dessen Fassade vorbeitreiben. Leuchtet irgendwo eine Zimmerlampe auf, wird dies stets vom Erlöschen einer anderen begleitet. Je länger wir diesem Tati‘schen Schauspiel beiwohnen, desto deutlicher nehmen wir es als kontinuierliches Flackern wahr, indem Ankunft und Abreise kurzschlussartig in einem einzigen Moment zusammenfallen. So leuchtet uns in der Fassade ein Sinnbild für die rastlose Existenzweise der einzelnen Bewohner auf, welcher sich das Gebäude verschrieben hat. Wie das Motel lässt es seinen Gästen zuliebe von sämtlichen Bindungsangeboten ab, die ihrer Aufbruchslust gefährlich werden könnten, denn sie suchen in ihm keine temporäre Heimat, sondern einen durchlässigen Fluchthelfer.
Um den Schock zu lindern, den uns der Einblick ins Innere des Hotels bereitet hat, konzentrieren wir uns auf die blauen, in sich ruhenden Lichtsäulen. Schnell hat sich uns ihr Muster wie ein Streifencode in die Netzhaut gebrannt. Dadurch erkennen wir in diesem zweifelhaften Ornament tatsächlich ein bewusst gesetztes, stabilisierendes Gegengewicht zu den ständig fluktuierenden, gelben Lichtkleksen. Paradoxerweise scheinen wir es gerade, ihrer wirren Anordnung zu verdanken, dass sie das gleichermaßen wirre Geflacker in den Zimmern dämpfen. Denn ein gleichmäßiges Muster hätte den Effekt wohl nur intensiviert. Dies ist sicher eine nette Pointe, doch ist es wirklich das einzige Zugeständnis, das eine der totalen Mobilität gewidmete Immobilie uns anbieten kann, die wir uns nicht kurzweilig in seinem Innern aufhalten, sondern permanent mit seinem Äußeren leben müssen?
Erleichtert gehen wir weiter. Erst wissen wir nicht warum. Vielleicht ist es die Erkenntnis, dass gerade eine solch grobe Gestalt nur ein fragiles Innenleben verhüllt. Vielleicht ist es aber auch die Gewissheit, dass wir uns nicht an diesem zum Wahn verkommenen Tourismus beteiligen müssen, sondern morgen wieder demselben Putz derselben Wände in denselben Straßen beim Ergrauen zusehen dürfen.