Unter Strom

Es war ein großer Moment, als 1902 endlich Strom auf diese Linie gegeben wurde und es den ersten Zug polternd über das stählerne Podest trieb. Als sei die ganze Stadt unter Strom gesetzt, zuckte alles hier kurz zusammen. Sogar manches Haus schien sich unter der Spannung zu verrenken. Jedenfalls deuteten uns die feinen Risse in den Fassaden an, dass das Erlebnis nicht unbemerkt an ihnen vorüberzog, auch wenn die Züge sie nicht mit Ruß bespuckten. Heute fällt es schwer, uns diesen Meilenstein auf dem Weg in die Moderne zu vergegenwärtigen. Nur wenn wir den U-Bahnhof Schlesisches Tor länger umkreisen, springt manchmal noch ein Funke auf uns über. Denn kein Bauwerk wurde stärker von dem Ereignis aufgeladen als dieses.

Schlesisches Tor

Wir können nicht glauben, dass es die Architekten Grisebach und Dinklage waren, die diesem Bau seine ungewöhnliche Gestalt gaben. Eher scheint sie uns das Ergebnis einer erheblichen Verformung zu sein. Schon die gegeneinander verschobenen Bahnsteige wirken, als hätten die Züge sie über die Zeit Millimeter für Millimeter mit sich gerissen. Doch ist dies nichts gegen die überwältigende Dynamik, welche durch die sprunghafte Aneinanderreihung von Türmchen und Pavillons entsteht. Allesamt sind sie mit einem Guss aus Dachziegeln überzogen, die dem Disparaten beinahe den Anschein der Einheitlichkeit verliehen, wenn sie nicht selbst wieder zu allen Seiten auskragten.

Gemeinhin bezeichnet man diesen architektonischen Collagestil als Malerisch. Dabei wird die entwerfende Hand nicht durch kunsthistorische Studien geleitet, stattdessen pinselt sie nach Lust und Gutdünken Grundriss und Bauschmuck in landschaftsmalerischer Manier aufs Pergament. Doch assoziieren wir mit diesem Gebäude einen anderen Ursprung. Unter dem Schutz der Dunkelheit sehen wir die Architekten über norddeutsche Friedhöfe schleichen. Dort graben sie einen ganzen Katalog an Ruinenteilen aus. Spätgotische Kielgiebel für die Portale sind darunter und opulent gekuppelte Renaissancefenster, die den Speisenden im rückwärtigen Restaurant einen erhabenen Ausblick bieten sollen. Auf der Baustelle stapeln sie ihre Fundstücke aufeinander. Aber erst durch das Einflößen des Stroms fügen sich die totgeglaubten Teile auch zusammen, wodurch die Struktur ähnlich der Kreatur Frankensteins zu neuem Leben erwacht.

Was werden die Architekten wohl gedacht haben, als sie die übrigen, überwiegend seriell ausgeführten Hochbahnhöfe der Strecke im zweckdienlichen Industriestil sahen? Stellten sie ihre Arbeit etwa infrage, als sie realisierten, dass nur sie die stählerne Konstruktion vollständig mit Stein verkleidet hatten? Wollten sie ihre Station vielleicht selbst wieder zerlegen und die Einzelteile erneut zu Grabe tragen, als sie sahen, dass allein ihr Werk nicht von einem freitragenden Dach überspannt war? Wir möchten es bezweifeln. Hoffentlich erkannten auch sie, dass gerade der antiquierte Stil das richtige Kontrastmittel bildete, um den Erstkontakt einer nach der Zukunft greifenden Epoche mit der neuen Technik zu dokumentieren. Denn es sind nicht die Formen selbst, welche der Bau museal aufbereitet, wie dies etwa die Fassade des Märkischen Museums leistet. Vielmehr dienen sie dem Bahnhof eher als Medium, in dem sich die Geisteshaltung jener Generation abdrückte, die noch in Steinen dachte, obwohl ihnen der Strom schon durch die Adern schoss.

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