Während die traditionelle Blockrandbebauung in Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg überwiegend zugunsten eines modernen Raumprogramms aufgegeben wurde, konnte sie in den Einkaufsstraßen gar nicht schnell genug wiederhergestellt werden. Meist erlaubten die begrenzten finanziellen Mittel nur notdürftige Lückenschlüsse mit niedrigen Behelfsbauten. Und doch scheinen gerade diese Strukturen in ihrer erzwungenen Ökonomie den kapitalistischen Minimalanspruch an die Architektur zu artikulieren. Denn in ihnen verschwindet jegliches Volumen, jegliche räumliche Tiefe, hinter nicht abreißenden Schaufensterfluchten, die der deutschen Nachkriegsgesellschaft die Grenzen des Begehrens absteckten.
Bei diesem Gebilde in der Wilmersdorfer Straße 104 handelt es sich strenggenommen nicht um einen solchen Behelfsbau. Denn bereits die breite Eingangstür zwischen Currywurstbude und Änderungsschneiderei verrät, dass es sich im Unterschied zu den temporären Neubauten entlang des Ku’damms oder dem erhaltenen Eckgebäude in der Akazienstraße 1 (heute: Kochhaus Schöneberg) um das Sockelgeschoss eines zerstörten Mietshauses handelt. Trotzdem verdankt der Bau sein Überleben möglicherweise ganz ähnlichen Motiven.
Eindrucksvoll, vor allem im Kontext der noblen Umgebung, ist die Bretterwand, welche wohl die Reste der Obergeschosse verhüllen soll. Wahrscheinlich blieben diese vom Abriss bewahrt, da sie den alten Schornstein stützen, der nach wie vor in Gebrauch ist. Dass große Teile dieser zweifelhaften Konstruktion deutlich über die improvisierte Kulisse hinausragen, scheint bei deren Konzeption niemanden gestört zu haben. Warum hielt man die Bretterwand dann aber überhaupt für notwendig?
Es ist leicht zu übersehen, aber die schmalen Leisten, die in unregelmäßigen Abständen vertikal über die Wand geführt sind, dienen nicht der Konstruktion. Stattdessen kaschieren sie die Spalte, an denen mehrere der horizontal verlaufenden Bretter aufeinandertreffen. Auch die Tatsache, dass sie annähernd gleich weit über die Wand hinausragen, bestärkt die ansonsten vollkommen abwegige Vermutung, dass es sich bei diesen Leisten um Dekoration handelt.
Folglich soll die Bretterwand nicht nur eine zerstörte Architektur verbergen bzw. als Behelfsbau die Abwesenheit von Architektur markieren. Stattdessen ist sie darauf ausgelegt, in den Augenwinkeln der Passant*innen selbst als Architektur zu erscheinen. Als solche nimmt sie den Rhythmus der gründerzeitlichen Nachbarfassaden auf und setzt ihn fort. Wer hier vorbeikommt, ohne das Gebäude genauer zu mustern, kann sich der Intaktheit des städtischen Gefüges sicher sein. Dadurch hilft die Wand dem vorbeihaschenden Blick über den historischen Abgrund hinweg, der hinter ihr aufklafft. Somit bannt ausgerechnet eine solch prekäre Architektur die Gefahr, dass das eskapistische Einkaufserlebnis auf dieser höchst sensiblen Transitstrecke zwischen dem Luxusausstatter Mientus und den übrigen Kaufhäusern der Wilmersdorfer Straße durch die Spuren des Krieges getrübt wird.
Leider steht eine derart unaufdringliche Form der Komplexität, die beinahe an eine Intervention von Gordon Matta-Clark erinnert, bei Stadtgestalter*innen und Immobilienentwickler*innen nicht hoch im Kurs. Dass diese Wand und die Ruinen, die sie verhüllt, überhaupt so lange überlebt haben, grenzt fast an ein Wunder. Deshalb ist es sicher nur eine Frage der Zeit, bis die Struktur einer „richtigen“ Architektur weichen muss. Dies ist insofern bemerkenswert, als sich heutige Pop-Up-Stores wie die Holzkonstruktionen im Bikinihaus um einen ähnlichen Haurucklook bemühen, wie sie diese Impro-Architektur über Jahrzehnte ausstrahlte. Wie so oft scheint das Zufällige ausgerechnet in dem Moment überholt zu sein, wo dessen interne Logik bewusst artikuliert wird.