Trümmerturm

Ruinen sind stets doppelt lesbar. Einerseits kann man sich daran versuchen, ihre Zerstörung zumindest in Gedanken durch die Ergänzung der fehlenden Bauteile zurückzunehmen, um ihre ursprüngliche Ganzheit zu rekonstituieren. Genauso ist es aber auch möglich, die zufällige Gestalt der architektonischen Reste als neue Ordnung anzuerkennen. Denn obgleich die amorphen Strukturen meist unter Missachtung ästhetischer Maßstäbe aus den Trümmern herausgeschält wurden, so lädt doch gerade ihre offene Form zur retroaktiven Ästhetisierung ein. Je länger man einen verstümmelten Bau betrachtet, desto deutlicher scheint er seine Glieder tentakelhaft nach den unterschiedlichsten Stilrichtungen auszustrecken, um bald darauf als vollendete Kollage der widersprüchlichsten Fragmente vor einem zu stehen.

Konstanzer 50

In der Konstanzer Str. 50 steht dieses Bruchstück eines klassischen Mietshauses, das sich mithilfe einiger grober Vermutungen schnell wieder zusammensetzen lässt: Fünf Vollgeschosse mit zwei repräsentativen Wohnungen pro Etage, die über einen Mittelflügel weit in den Block hineinragten und mittels eines Lichtschachts seitlich des zentralen Treppenhauses zusätzlich belüftet wurden. Zwar ist der Mittelflügel intakt, doch steht vom Vorderhaus neben dem Treppenhaus allein noch ein Teil des linken, hinteren Viertels. Möglich war die Rettung des Hauses allein, da auch die tragende Mittelwand (längs zur Straße) das Bombardement überlebte.

All das lässt sich leicht ignorieren, wenn man den Wohnturm, der mittels eines runden Gelenkstücks an einen vertikal gelagerten Flügelbau andockt, von der Historie ablöst und seinen Einzelteilen in die Tiefe ihrer jeweiligen Formensprache folgt. Dann zeugen die unregelmäßig angeordneten Balkone mit ihren ausgeblichenen Farben vor allem im Kontrast zur scharfkantigen Kubatur des Baus plötzlich von einem angenehm mediterranen Pragmatismus. Weiter geht es mit dem Treppenhaus, dessen vormals verborgene Rundung durch etwas interpretativen Nachdruck als Präfiguration der Dampferästhetik des Bauhauses aufleuchtet. Ist dieser Bau in seiner Tiefenstruktur vielleicht immer schon modern gewesen? Oder ist die Ästhetik der Moderne, wie Loos es nahelegt, wirklich nur das Resultat einer konsequenten Freilegung des architektonischen Körpers aus den Wirren der Ornamentik? Egal, schon gilt es die nächste Spur zu verfolgen, denn das Treppenhaus steht nicht ganz so frei wie gedacht. Vielmehr wird es von einem gerundeten Strebepfeiler gestützt, der aus einer ehemaligen Zwischenwand modelliert ist. Er entspringt ganz und gar nicht der Moderne, sondern verweist eher auf die Gotik. In dieser konkreten Konstellation erinnert seine Gestalt aber an eine mittelalterliche Befestigungsanlage, wodurch das Treppenhaus zu einem fortifizierten Wehrturm mutiert.

Das dürfte fürs Erste reichen, denn was sich eben noch als trauriger Rest eines x-beliebigen Mietshauses zeigte, erscheint nun als Kollage der entlegensten Kontexte: Ein fortifiziertes Turmhaus der klassischen Moderne irgendwo am Mittelmeer. Vielleicht war es dieses freie Spiel der Einbildungskraft, welches die preußischen Könige animierte, auf einem Hügel vis-à-vis vom Schloss Sanssouci eine Ruinenanlage anzulegen, die Fragmente der griechischen, römischen und normannischen Architektur im Sinne der englischen Gartenkunst zur ahistorischen Staffage zusammenfügte. Ein bisschen darf man sich also wie ein König fühlen, wenn man eines der wenigen erhaltenen Ruinenhäuser Berlins als Einladung zum Fabulieren versteht, um dem Ganzheitsdünkel unserer Tage zumindest temporär zu entkommen.

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