Den Villenkolonien, die sich um 1900 entlang der Wannseebahn ansiedelten, war die Eisenbahn ein notwendiges Übel. Einerseits waren die großbürgerlichen Kolonist*innen auf eine gute Schienenverbindung mit der Innenstadt angewiesen, an die sie zumindest aus Erwerbsgründen gebunden blieben. Andererseits stand die Eisenbahn mit ihren schrillen Dampfpfeifen und den dichten Rußfahnen ausgerechnet für jene großstädtischen Verhältnisse, denen man sich am Wannsee, Nikolassee und Schlachtensee entziehen wollte. Aus diesem Grund wurde den Bahnhöfen ein möglichst pittoreskes Aussehen gegeben. Ferner verbannte man die Trassen an den äußersten Rand der Siedlungen, wo sie sich hinter dichten Baumwällen abschirmen ließen. Anders verhält es sich im jüngsten Terrainprojekt der Strecke, der Villenkolonie Zehlendorf-West (ab 1904). Ihr Bahnhof, der heutige S-Bahnhof Mexikoplatz, befindet sich im Zentrum der Anlage. Unterstrichen wird diese Zentralität durch die Kreisform des Bahnhofsplatzes, in dessen Mitte sich die Züge über ein weithin sichtbares, bühnenartiges Podest schieben dürfen.
Dabei unterscheidet sich das Programm der Kolonie keineswegs von dem ihrer Vorgänger. Davon zeugt die Werbebroschüre (1903), in der die Paradigmen der Zeit in aller Deutlichkeit aufgeschlüsselt sind:
Die heutigen, schwierigen Erwerbsverhältnisse und allgemein gesteigerten Bedürfnisse des täglichen Lebens bedingen ein fortwährendes, aufreibendes Ringen nach Gewinn, ein rastloses körperliches oder geistiges Arbeiten, wie es unsere Vorfahren in so intensiver Weise nicht gekannt haben. Es werden dadurch die Gesundheit und die Kräfte – besonders der Grossstadtbewohner – schnell verbraucht und nervöse Krankheiten aller Art nehmen in erschreckender Weise überhand. Hieran ist indessen nicht allein die intensive Tätigkeit Schuld, sondern in viel grösserem Maasse der Mangel an Ruhe und an reiner ozonhaltiger Luft in den eng bewohnten Grossstädten mit ihrem unaufhörlichen Lärm und Hasten und ihrer durch Rauch und Staub verdorbenen Luft.
Als bessere Alternative hierzu empfiehlt sich die Villenkolonie Zehlendorf-West mit ihren Lebensverhältnissen „in gesunder Luft und ländlicher Stille, im Einfamilienhaus“. Doch kommt selbst die Werbebroschüre nicht ohne den Abdruck eines ausführlichen Fahrplans und dem Hinweis aus, dass der Potsdamer Platz dreimal stündlich und dank weniger Zwischenhalte in nur 16 Minuten zu erreichen ist (heutige Fahrzeit: 26 Minuten).
Der Konflikt, der sich im Kern der Werbebroschüre zeigt, ist nichts Geringeres als das zentrale, architektonische Drama der Epoche. In ihm stehen sich der lebensreformistische Wunsch nach einem naturnahen Wohnen und die dadurch gesteigerte Abhängigkeit von der urbanen Industrie unvereinbar gegenüber. Denn je weiter sich die bürgerlichen Reformer*innen räumlich von der Großstadt distanzierten, desto stärker hingen ihre Mobilität, Versorgung und Kommunikation von der industriellen Infrastruktur ab.
Bis zum Bau der Kolonie Zehlendorf-West bestand das zentrale Ziel der Terraingesellschaften, welche die Siedlungsgebiete erschlossen, in der ästhetischen Verblendung dieses Zusammenhangs. Deshalb wurden die Zentren der Anlagen allen voran in der Villenkolonie Nikolassee (ab 1901) nach dem Beispiel idealisierter Dorfplätze angelegt. Entsprechend war es eine besondere Errungenschaft der Kolonie Nikolassee, dass man sie 1910 zur selbstständigen preußischen Landgemeinde erhob, obwohl sie ausschließlich dem Wohnen diente und es weder Schulen noch größere Einkaufsmöglichkeiten gab.
Vor diesem Hintergrund stellt der Mexikoplatz vielleicht die hintergründigste städtebauliche Situation dar, die der Vorstadtboom um 1900 hervorgebracht hat. Nicht nur brechen seine Zentralität und exakte Geometrie mit den Plätzen der übrigen Kolonien, vielmehr stehen sie auch in einem krassen Widerspruch zu den in malerischer Manier angelegten Straßen von Zehlendorf-West. Diese sind vollkommen antihierarchisch und mit leichten Schwüngen in den ehemaligen Forst gelegt. Beiläufig folgen sie dem Verlauf des künstlichen Waldsees. Wo sie sich kreuzen, scheint dies allein zufällig zu geschehen. Ebenso zufällig münden sie in den Mexikoplatz.
Hier endet schlagartig jegliche Beliebigkeit zugunsten einer vollständigen formalen Entsprechung sämtlicher Bauteile. Rund ist neben dem Platz selbst auch der Zentralbau des Bahnhofs mit seiner ausgestellten Kuppel (Hart & Lesser, 1904—05). Rund ist außerdem die vierstöckige, halbkreisförmige Blockrandbebauung (Otto Kuhlmann, 1905—1910) im Landhausstil urbanen Maßstabs mit riesigen Gauben und der Wehrarchitektur entlehnten, gleichermaßen runden Verteidigungstürmen. Folglich klafft zwischen der Platzbebauung und den Einfamilienhäusern ein maßstäblicher, ein gestalterischer Bruch auf, wie er im Kontext der Zeit nicht härter hätte ausfallen können.
Die Platzbebauung bringt die verstreuten und allein dem individuellen Geschmack ihrer Bauherr*innen verpflichteten Einfamilienhäuser in ihrem Rücken zum Verschwinden. Anders als sie will der Mexikoplatz kein Ort sein, an dem man der Stadt entflieht. Vielmehr wird die Stadt hier, vom Blockrand abgeschirmt, in einer Art heiligem Ritual inszeniert. Wieder und wieder rollten die Dampfloks mitten über den Platz. Der Kessel pfiff, die Räder quietschten und die Rußsäulen schnaubte es zum Himmel. Vor diesem Schauspiel suchte die Platzbebauung keine Deckung. Stattdessen scheinen sich die Turmhäuser wie Besucher eines Amphitheaters in Halbkreisform angeordnet zu haben, um das industrielle Spektakel aus idealer Distanz zu verfolgen. Fast scheint es so, als sei ihnen der moderne Eisenbahnbau wie der perpetuierte Schlussakt einer griechischen Tragödie vorgekommen.
In dieser urbanen Idylle aus moderner Verkehrstechnik und großmaßstäblichem Wohnungsbau scheinen die städtischen Konflikte gelöst. Wer hier wochentags sein ländliches Exil verließ, um mit der Eisenbahn in die verdreckte Großstadt zu fahren, der konnte sich zumindest einen Moment lang der Möglichkeit einer harmonisch versöhnten Stadt sicher sein. So wurde die Eisenbahn, die den übrigen Villenkolonien allein ein notwendiges Übel war, in Zehlendorf-West zum Bestandteil einer raumkünstlerischen Skulptur mit utopischem Anspruch.