Vielleicht lässt sich der architektonische Wandel Berlins nirgendwo so deutlich nachvollziehen wie hier, unter der Erde, in der U-Bahn, wo die exzessiven Farbwelten Rainer G. Rümmlers aus den Sechziger- und Siebzigerjahren systematisch durch schale Wiedergänger ihrer selbst ersetzt werden. Die Konsequenz, mit der die BVG ihr Zerstörungswerk vorantreibt, verwundert. Wie Verena Pfeiffer-Kloss in ihrer kürzlich erschienenen Dissertation Der Himmel unter West-Berlin darlegt, zeugen die 58 U-Bahnhöfe Rümmlers von einer singulären Auseinandersetzung mit dem architektonischen Typus. Dieses geschlossene und in sich ausdifferenzierte Werk muss nun einem Wildwuchs aus wenig originellen Einzellösungen weichen. Die Vermutung liegt nahe, dass die umfassenden Umbaumaßnahmen nicht nur einen sachlich-materiellen Grund haben. Stattdessen scheint sich einer Gesellschaft, die nur noch in Graustufen baut und Gefahr läuft, auch so zu leben, der Aufbruchscharakter von Rümmlers Pop-Ästhetik als unerträgliche Provokation darzustellen.
Aktuell ist der Bahnhof Jakob-Kaiser-Platz an der Reihe. Hier wird das strahlende Gelb, das einst den gesamten Innenraum sowie die weitläufigen Erschließungstunnel dominierte, durch einen cremigen Mix aus Ocker und Beige ersetzt. Allein das emblematische Schild mit dem Stationsnamen erinnert noch ans Original. Aktuell präsentiert sich der Bahnhof in einem merkwürdigen Zwitterstadium. Während die Hintergleiswände und manche Stützen schon die neuen Fliesen tragen, zeigen die Treppenschächte und übrigen Einrichtungen auf dem Bahnsteig noch die ursprüngliche Aluverkleidung. Diese temporäre Konfrontation zwischen Alt und Neu ermöglicht es, den ideologischen Programmen nachzuspüren, die in ihnen aufeinanderprallen.
Der Bahnhof entstand 1968 zusammen mit dem über ihm gelegenen Brückenbauwerk der A111. Zu diesem Zeitpunkt endete die U7 noch an der Möckernbrücke. Bis sie sich durch Schöneberg, Wilmersdorf und Charlottenburg gearbeitet hatte, musste der Bahnhof zwölf Jahre lang versiegelt im Erdreich ausharren. In der Folge erscheint er einem auf einer Fahrt mit der U7 wie ein rätselhafter Zeitsprung. Gerade noch hat man die stimmungsvoll beleuchteten Bahnhöfe Mierendorffplatz und Jungfernheide mit ihren verspielten Mosaikmustern passiert. Die Aluverkleidung der Bahnsteigbauten, die in früheren Bahnhöfen noch als metallische Anleihen aus dem SciFi-Genre erkennbar waren, sind hier im Wohnzimmerbraun der frühen Achtziger getüncht und vermitteln eine mysteriöse Gemütlichkeit. Kaum hat man jedoch die Spree unterquert, schlägt einem dieses strahlende Gelb wie eine Ohrfeige ins Gesicht und es zeigt sich eindrücklich, wie viel Zeit eigentlich zwischen den Jahren 1968 und 1980 vergangen ist.
Gleichzeitig befördert dieser brachiale Effekt aber auch grundsätzliche Erkenntnisse über das Wesen des U-Bahnhofs zutage. So führt einem das grelle, alles bedeckende Gelb vor Augen, dass es kaum einen anderen architektonischen Typus geben dürfte, welcher der Gestaltung so viel Raum zugesteht. Denn die fensterlose Betonhülle, die jedem U-Bahnhof als Rohling zugrunde liegt, stellt den Bezug zur Außenwelt fundamental infrage und erhebt die Architektur zum Herrscher über einen totalen Innenraum. Die Qualität von Rümmlers Bauten gründet sich nicht zuletzt in der Tatsache, dass sie diesem Wesenszug weitestgehend nachgehen, bis er sich quasi selbstreflexiv in ihnen darstellt. Somit mag die ablehnende Haltung, die Rümmlers Unterwelten von allen Seiten entgegenschlägt und die letztlich zu deren Zerstörung beiträgt, also auch in der Skepsis gegenüber dem stets willkürlichen Herrschaftsanspruch der Architektur gründen.
Allerdings demonstriert Pfeiffer-Kloss in Der Himmel unter West-Berlin auch, welche komplexen Beziehungen die U-Bahnhöfe Rümmlers gerade aufgrund ihrer Unabhängigkeit mit ihrem städtebaulichen Kontext eingehen. So vermögen sie es einerseits, ikonische Bauten der Umgebung (wie die Spandauer Zitadelle) unter der Erde zu simulieren, um einen möglichst ausgeprägten Ortsbezug herzustellen. Andererseits können sie aber auch regelrechte Gegenorte ausbilden, die in einen Widerspruch zur Oberwelt treten. Beispielsweise zeigt Pfeiffer-Kloss wie Rümmler ausgehend vom Stationsnamen entfernte Orte herbeiassoziiert (den Thüringer Wald im Bahnhof Eisenacher Straße), mithilfe von Spolien museale Räume erschafft (die Mosaikbilder aus dem 1975 gesprengten Bayerischen Hof im Bahnhof Richard-Wagner-Platz) oder wie er durch narrative Verfahren selbst zum Schöpfer von Fantasiewelten avanciert (Bahnhof Paulsternstraße).
Um einen solchen Gegenort handelt es sich gewissermaßen auch beim Bahnhof Jakob-Kaiser-Platz, der die Paul-Hertz-Siedlung an den Nahverkehr anschließt. Die weitläufige Anlage aus flachen Zeilenbauten mit etwa 3200 Wohnungen entstand in den frühen Sechzigerjahren nach dem Modell der funktional gegliederten Stadt als reine Wohnsiedlung im Grünen. Somit finden sich hier neben einer Kirche, einer Grundschule sowie kleineren Einkaufsmöglichkeiten keine gesellschaftlichen Einrichtungen. Alle darüber hinausgehenden Bedürfnisse verweisen die Bewohner*innen auf angrenzende Viertel urbaneren Charakters. Doch ist die Siedlung zu allen Seiten hart umgrenzt. Im Westen liegt die Autobahn A111, südlich kappen die A100 sowie der Westhafenkanal die Anlage vom Rest Charlottenburgs und nördlich wie östlich schließt sich ein dichtes Meer aus Kleingartenkolonien an, hinter dem sich lediglich der Flughafen Tegel befindet.
Die Paul-Hertz-Siedlung ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Insel. Wer ihr entkommen will und kein Auto besitzt, ist auf die U-Bahn angewiesen. In diesem Kontext wird der Bahnhof Jakob-Kaiser-Platz zum Symbol für all das, woran es der Wohnanlage mangelt: Kultur, Konsum, Bildung, Unterhaltung, Unabhängigkeit und Erwerb. Somit erscheint das strahlende Gelb, das aus seiner Tiefe ähnlich des Sonnenlichts in die grauen Wohnzeilen fällt, wie ein Signal des Aufbruchs. Dadurch lässt sich der Bahnhof nicht zuletzt als Metapher für das Versprechen der sozialen Mobilität lesen, insofern sein leuchtender Glanz den Suchenden einen Ausweg aus dem abgeschiedenen, kleinbürgerlichen Milieu weist.
Derzeit finden sich jedoch erste Anzeichen für einen charakterlichen Wandel der Paul-Hertz-Siedlung und der angrenzenden Wohnanlagen jenseits der A111. Vor allem der bevorstehende Abriss des riesigen Schulareals am Halemweg beflügelt das Bestreben der Stadtverwaltung, ein eigenes Ortszentrum in Charlottenburg Nord auszubilden. In Anbetracht dieser Entwicklung stellt sich die Frage, ob sich das symbolische Programm von Rümmlers Architektur nicht erschöpft hat. Braucht ein Ort, der sein eigenes Zentrum etablieren will, nicht auch im Untergrund einen Symbolraum, der nicht länger in grellem Gelb den Aufbruch verspricht, sondern ähnlich eines gemeinschaftlichen Wohnzimmers in dezentem Beige eine ruhige Atmosphäre zum Ankommen schafft?
So konsequent der Umbau des Bahnhofs vor diesem Hintergrund auch erscheinen mag, so fahl ist doch der Beigeschmack, der ihn begleitet. Denn die Tilgung der emanzipatorischen Symbolik aus dem Stadtbild korrespondiert nicht zufällig mit einer Krise des ökonomischen Aufstiegsversprechens, dem akuten Wohnungsmangel und den steigenden Mieten, die auch Familien aus der Mittelschicht in die einstigen Arbeitersiedlungen drängen. Folglich geht es bei der gestalterischen Umkodierung des Bahnhofs durch seine farbliche Entsättigung auch darum, die bestehenden Verhältnisse zu zementieren und jegliche Veränderungsbestrebungen zu betäuben. Darauf zielt die Zerstörung von Rümmlers Architektur im Speziellen wie auch die allgemeine Verdrängung intensiver Farben aus dem Stadtbild ab: Hier werden Orte, die aufrütteln, wach machen, vielleicht sogar Aggressionen befördern, zu solchen, die man hinnehmen kann, die nicht stören, nicht fordern, zu Orten, an denen man gähnend vorübergeht und die einen nicht auf die Welt beziehen, sondern sorgsam ins Bett geleiten. Dies ist der eigentliche Unterschied zwischen Rümmlers pulsierendem Gelb und seinem somnambulen Ersatz, dem cremigen Mix aus Ocker und Beige.