Am oberen Rand der Karte, die Rem Koolhaas‘ Beitrag für die Internationale Bauausstellung 1987 in der Friedrichstadt verortet, findet sich eine Struktur, die es so in Berlin nicht gibt. Ähnlich einer Federprobe auf den Seiten einer mittelalterlichen Handschrift scheint das Gebilde allenfalls beiläufig in den Stadtplan gekrickelt worden zu sein. Auszumachen sind drei angespitzte Balken, die teils parallel, teils in einem Winkel zueinander liegen. Am Ende des einen befindet sich eine Rundung, die so wirkt, als sei der Stift hier über eine Unebenheit im Papier gestolpert. Von einer Einheit der Figur kann überhaupt nur gesprochen werden, da zwei Haarstriche die einzelnen Glieder miteinander verbinden. Dies ist Erich Mendelsohns Studie für das Haus des Deutschen Metallarbeiterverbandes (1929). Zusammen mit Mies van der Rohes gläsernem Hochhaus (1921) und Ludwig Hilberseimers Hochhausstadt (1924) legt der Entwurf das utopische Fundament für Koolhaas‘ IBA-Projekt. Doch nimmt die Studie nicht nur in der Theoriebildung des niederländischen Architekten sowie der Geschichte Berlins einen hohen Stellenwert ein. Auch zum Verständnis der Beziehung zwischen der SPD und den Gewerkschaften ist sie von herausragender Bedeutung.
(Einmal mehr empfiehlt sich ein Blick auf diese nette Grafik des Tagesspiegels: https://1928.tagesspiegel.de)
Die Geschichte des Gebäudes beginnt mit der verkehrstechnischen Modernisierung der südlichen Friedrichstadt in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Zu dieser Zeit konkretisierten sich Pläne, die Lindenstraße zu einer zentralen Verkehrsachse modernen Ausmaßes auszubauen, um den Belle-Alliance-Platz zu entlasten. Das Unternehmen begann mit dem Anschluss der Lindenstraße an den Spittelmarkt. Dazu wurde ein Häuserblock zwischen Kommandanten- und Beuthstraße durchtrennt. Im Süden war eine Zusammenführung mit der Alten Jakobstraße vorgesehen, die es ermöglichen sollte, den Verkehr aus dem Stadtzentrum am Belle-Alliance-Platz vorbeizuführen. Dabei galt es gleich zwei Blöcke zwischen Franz-Künstler- (ehemals Hollmann-) und Gitschiner Straße zu zerteilen. Aus verkehrstechnischer Perspektive wäre eine Verlängerung der Markgrafenstraße über die Lindenstraße hinaus sinnvoll gewesen, doch hätte dies den Abbruch des Kollegienhauses bedeutet – eine Entscheidung, die selbst dem modernisierungswilligen Geist der Weimarer Republik schwergefallen sein dürfte. Heute bildet das älteste erhaltene Gebäude Kreuzbergs von 1735 den Eingang zum Jüdischen Museum.
Deshalb entschied man sich, das Unterfangen aus südlicher Richtung anzugehen, wo die projektierte Straße das Areal der SPD schnitt. Hier musste allein ein Teil der von der Partei genutzten ehemaligen Kürassier-Kaserne abgerissen werden, um das Bauland für die geplante Straßenkreuzung zwischen dem Verbindungsstück zur Lindenstraße und der Alten Jakobstraße freizulegen. Als Käufer für das spitze Eckgrundstück, das dadurch entstanden war, fand sich eine SPD-nahe Gewerkschaft, der Deutsche Metallarbeiterverband (DMV).
Der Verband beauftragte Erich Mendelsohn eine städtebauliche Studie für das Gelände zu erstellen. Das Ergebnis ist mit dem Begriff Gebäude nur unzureichend beschrieben. Eher ersann der Architekt eine konstruktivistische Montage, welche die Grundstücke von SPD und DMV beiderseits der neuen Straße durch einen viergeschossigen Brückenriegel verbindet. Weiterhin besteht der Entwurf aus einem langestreckten Flügel, welcher die Höfe der SPD-Zentrale in östlicher Richtung abschließt und in einer engen Kurve in die Gitschiner Straße einmündet. Realisiert wurde allein das dritte Element des Ensembles: zwei in einem spitzen Winkel zusammenlaufende Achsen mit kleinteiliger Lochfassade und elegant geschwungenem Quasirisalit an deren Scheitel.
Aufgrund des symmetrischen Grundrisses und des Rückgriffs auf klassische Gestaltungsgrundsätze – die konkave Wölbung der Front wird durch den konvexen Sockel des Fahnenmastes im obersten Stockwerk komplementiert – mutet der Bau im Oeuvre Mendelsohns eher konservativ an. Im Modell dagegen geht das Eingangsportal gänzlich im Brückenbauwerk auf. Der Entwurf wird demnach weder durch den Repräsentationsanspruch noch die Funktion strukturiert. Vielmehr folgt die Gliederung des Baukörpers den arbiträren Gegebenheiten der unvorteilhaften Bauplatzfetzen, auf die sich seine Masse verteilt. Allein wo die Grundstücke und Straßenverläufe ein Einlenken der Fassade erfordern, werden die fließenden Fensterbänder unterbrochen, ändert sich die Höhe der Gebäuderiegel. Es entsteht der Eindruck, als ordnete sich der Bau vollständig der urbanen Situation unter, als löse er sich im Stadtganzen auf.
Doch geht mit dieser unaufdringlichen Geste auch ein impliziter Allmachtsanspruch einher. Denn indem es sich von der Idee der einheitlichen Form verabschiedet, welche das Bauwerk strukturiert und seine Ausmaße ästhetisch begrenzt, kann es sich theoretisch an jedes Grundstück und an jede Nutzung anpassen. Nichts hält diesen neuartigen Bau davon ab, sein Gestaltungsprinzip auch auf angrenzende Bauplätze auszuweiten, bis sein Stahlgerüst spinnennetzartig die gesamte Stadt bedeckt. Darin zeigt sich eine gestalterische Nähe zur SPD-Zentrale, an der eingangs ein ähnliches Wachstum zu beobachten war. Nur erhebt Mendelsohn das Raumprogramm, welches den Gebäudeankäufen der SPD zugrunde liegt, zum architektonischen Planungsmodell. Es ist diese einzigartige Spannung zwischen dem Fragmentarischen und einem verborgenen Ganzheitsanspruch, zwischen dem zufällig Gegebenen und dem bewusst Gestalteten, die den DMV-Entwurf im Kontext der klassischen Moderne so bedeutend macht.
Ferner ist der Entwurf das vergessene Symbol einer Zeit, in der die Zusammenarbeit der SPD mit den Gewerkschaften derart eng war, dass die Gebäude der Institutionen beinahe miteinander verschmolzen wären. Doch blieben die gemeinschaftlichen Höfe, in denen sich die Mitarbeiter*innen und Aktivist*innen beider Organisationen hätten austauschen können, unrealisiert. Einzig Mendelsohns Studie erinnert an diese utopische Bastion. Tatsächlich stand die Zentrale der DMV lange Jahre isoliert im Häusermeer, wie ein Unfall, den es alsbald zu korrigieren gelte. Denn die namenlose Straße westlich des Gebäudes, durch die heute der Verkehr der Lindenstraße fließt, verblieb 15 Jahre lang ein nicht mal Hundertmeter langer Stummel, der sich in den Hinterhöfen der Neuburger Straße verlor – eine auf zeitgenössischen Fotografien surreal anmutende Situation.
Die städtebauliche Situation der Gewerkschaftszentrale änderte sich erst mit den Bomberverbänden der Alliierten, die im Februar 1945 die gesamten Friedrichstadt in eine Trümmerwüste verwandelten. Als eines der wenigen Gebäude, das die Zerstörung aufgrund seines modernen Stahlskelets zumindest in seinen Grundfesten überlebt hatte, stand die DMV-Zentrale nun freigesprengt in einem Nichts aus Sand und Gestrüpp. Wie durch ein Wunder hatten die Bomben auch das Hauptgebäude der SPD in der Lindenstraße 3 verschont. Ein paar Jahre lang war es die einzige Architektur im Umkreis des leergeräumten Belle-Alliance-Platzes. Dann musste es ebenfalls der Nachkriegsbebauung weichen. Seine abgeschlossenen Höfe waren mit den kreisförmigen Freiflächen zwischen den neuen Wohnscheiben unvereinbar. Damit war die SPD bis auf Weiteres aus der Region vertrieben und das, obwohl sich ihr hier nur wenige Jahre zuvor der Raum für eine vielversprechende architektonische Liaison mit einer Gewerkschaft eröffnet hatte. Einmal mehr erweist sich das Schicksal der Partei als den Launen der Stadt unterworfen.