Am Abgrund

Der Bahnhof Hohenzollerndamm ist ein Gebäude, das für den Fußverkehr gebaut wurde. Nur wer sich ihm langsam nähert und dabei die parallaktische Verschiebung seiner Glieder beachtet, kann seinen Witz verstehen. 1910, im Jahr seiner Eröffnung, war diese Art der Annäherung selbstverständlich. Damals befuhren nicht einmal Straßenbahnen die breite Straße. Sie gehörte ganz den Droschken, Fahrrädern und Fußgänger*innen, die aus den spärlich gestreuten Wohnvierteln Schmargendorfs zum Bahnhof kamen. Von diesen großbürgerlichen Bauten haben nur wenige den Krieg überstanden. Im Umkreis des Bahnhofs fehlen insbesondere die turmbesetzten Eckhäuser, welche einst die Mündung zur Charlottenbrunner Straße rahmten. Statt ihrer dominieren heute die Auffahrten zum zweiten, 1960 eröffneten Abschnitt des Stadtrings die Hohenzollernbrücke. Seitdem beansprucht der motorisierte Verkehr die Straßen um den Bahnhof für sich. Drum liegt sein Geheimnis meist hinter einer nur selten abreißenden Wand aus Blech und Lärm verborgen. Doch mit müßiggängerischem Blick dringt man manchmal noch zu ihm durch.

Der Bahnhof ist ein Gebäude ganz nach dem Geiste des Spätwilhelminismus. Auf den ersten Blick wirkt der Eingangsbau abweisend. Der festungsähnliche Sockel, die Fensterscharten darüber und der ehemals gänzlich fensterlose Steingiebel mit dem riesigen Reichsadler an seiner Spitze scheinen erdrücken zu wollen. Lenkt man seine Aufmerksamkeit jedoch auf das Gesamtensemble, wird deutlich, dass die wehrhafte Symbolik nicht für sich steht. Vielmehr spielt das Arrangement verschiedene architektonische Empfindungen spannungsreich gegeneinander aus. So ist dem massigen Empfangsgebäude ein weicher geratener Turm mit weiß verputztem Schweifgiebel und beinahe kindlichen Jugendstillettern gegenübergestellt, der sich über dem Treppenabgang zu den Gleisen erhebt. Er wirkt keineswegs abweisend. Stattdessen haben die überhohen, mit Laternen besetzten Mauern, welche den Weg vor ihm flankieren, eine einladende, eine schützende Qualität. Durch derartige Kontraste thematisiert der Bahnhof die Wirkung von Architektur mehr, als dass er selbst einen homogenen Eindruck ausbildet.

Lässt man den Bahnhof aus einiger Entfernung auf sich wirken, kann man gut nachvollziehen, warum die Handelsgesellschaft für Grundbesitz den Entwurf von Heinrich Thiesing wählte, um ihre neu erschlossenen Grundstücke an den S-Bahnring anzubinden. Als fantastische Schöpfung einer akademischen Architekturauffassung sollte er einen wesentlichen Beitrag zur kulturellen Urbarmachung des ehemaligen Ackerlands leisten. Denn wo sich um 1910 noch nicht viel mehr als ein paar verstreute Wohnhäuser befanden, war es an den wenigen öffentlichen Bauwerken gelegen, dem bürgerlichen Kunstwollen ein Mindestmaß an Schauwerten zu bieten. Von der einst ländlichen Umgebung des Bahnhofs zeugen Motive wie der schlichte Fachwerkriegel, der im Gegensatz zu den angrenzenden Gebäudeteilen gänzlich ohne Dekor auskommen muss. Wie der Hebelarm einer Waage ruht er überraschend plan zwischen den ungleichen Massen. Je näher man dem Bau jedoch kommt, desto stärker bringt er das fragile Ensemble aus dem Gleichgewicht.

Entgegen dem ersten Eindruck ist der nur scheinbar traditionell gefertigte Fachwerkkörper nicht auf festem Grund gebaut. So klafft zwischen ihm und dem Gehweg ein tiefer Abgrund auf, der sich nur aus der Nähe abzeichnet. Dieser gibt den Blick auf eine moderne, über den Bahngleisen balancierende Eisenkonstruktion frei. Der plötzliche Perspektivwechsel lässt das pittoreske Bild des Bahnhofs zerspringen. Anstatt als kompositionelle Ganzheit, die durch das bildungsbürgerliche Kunstverständnis gestützt schien, entblößt sich der Bau als beinahe konstruktivistisches Produkt der Ingenieurskunst. Vom Eindruck der Einheit bleiben zuletzt nur drei lose aneinandergereihte Einzelteile, die ihren je eigenen Konstruktionsanforderungen gehorchen.

Wie unwahrscheinlich ein solches Bauwerk aus der Perspektive des 19. Jahrhunderts ist, zeigt Walter Benjamin in seinem Exposé zum Passagen-Werk. Hier urteilt er über die frühe Moderne, dass sie die „funktionelle Natur des Eisens“ noch nicht erkennen konnte. Drum habe das 19. Jahrhundert die neue Technologie als Möglichkeit verklärt, zur hellenischen Baukunst zurückzukehren. Eisenträger aus dieser Epoche erschienen daher häufig wie Abgüsse pompejischer Säulen. Auch der Fachwerkriegel am Hohenzollerndamm kann als romantisches Motiv in diesem Sinne gelesen werden. Doch funktioniert es eben nur aus der Distanz. Somit tritt das Material hier nicht vollends hinter dem historischen Zitat zurück, wie es Benjamin an Bauten des 19. Jahrhunderts beobachtet. Vielmehr verhüllt das Zitat das moderne Material nur, um dessen technische Fähigkeiten in einem dramatischen Akt offenlegen zu können. In dieser koketten Inszenierung kommt das „konstruktive Prinzip“ (Benjamin) des Eisens selbst zur Darstellung.

Dies wird umso deutlicher, wenn man den Bahnhof Hohenzollerndamm mit seinem Nachbarn am Heidelberger Platz vergleicht, der seine heutige Gestalt rund zwei Jahrzehnte früher im Jahr 1892 erhielt. Strukturell unterscheiden sich die Bauten kaum. Beide Bahnhöfe befinden sich auf Straßenniveau im Innern des Rings und verfügen über je einen Mittelbahnsteig. Erschlossen wird dieser durch eine Brücke, die über das innenliegende Gleis gelegt ist. Allerdings ist der bescheidene Bahnhof am Heidelberger Platz in Sichtbackstein ausgeführt, wodurch er sich als Industriearchitektur zu erkennen gibt. Dasselbe leistet die Brückenkonstruktion aus schmalen Eisenprofilen, die mit dünnem Glas ausgefacht sind. Dieses Gebäude zeichnet sich durch eine hohe Materialtreue aus. An keiner Stelle versuchen seine Teile mehr darzustellen, als sie sind. Neu am Bahnhof Hohenzollerndamm ist also nicht der Fokus auf die Konstruktion, sondern deren selbstreflexiver Einsatz. Denn das Eisen tritt an ihm weder als bloßes Trägermaterial historischer Stilzitate in Erscheinung, noch verweist es als sachliche Konstruktion auf sich selbst. Stattdessen vermisst es die Distanz zwischen sich als künstlichem Baumaterial der Moderne und der historischen Form, die es nachahmt. Darin liegt die Pointe des gesamten Entwurfs.

Die Inszenierung dieser Pointe erfolgt keinesfalls beiläufig. Jedes Mal, wenn man sich dem Gebäude nähert, durchschlägt die Konstruktion das romantische Motiv von neuem. In seiner hintergründigen Wirkung gleicht der Bahnhof dadurch fast einem Folly. Doch anders als eine künstliche Ruine im Englischen Garten zielt die moderne Reflexionsfigur nicht auf die Vergangenheit ab. Vielmehr eröffnet sie einen beunruhigten Ausblick auf zukünftige Entwicklungen. So kann die destabilisierende Wirkung der sich schockhaft enthüllenden, die architektonische Komposition infrage stellenden freitragenden Eisenkonstruktion als Antizipation jenes endgültigen Durchbruchs der modernen Technik gelesen werden, der sich nur vier Jahre später auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs ereignen sollte.

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