Kraterlandschaft

Albert Speer hatte beim Entwerfen seiner Bauten nicht zuletzt deren ästhetischen Ruinenwert im Blick. Er strebte eine Architektur an, die im Verfallszustand nach dem Untergang des „Tausendjährigen Reiches“ ein ähnlich erhabenes Bild abgeben würde wie die Hinterlassenschaften der Antike. Deshalb betrachtete er Stahlbeton anfänglich als minderwertigen Baustoff. Bröseliger, mit rostigen Moniereisen zerfaserter Kunststein schien nicht seiner Vorstellung von Monumentalität zu entsprechen. Nach dem Krieg entdeckte man im traditionellen Backsteinmauerwerk der Mietshäuser einen radikal anderen, einen funktionalen Ruinenwert. Denn sie ermöglichte es, einzelne zerstörte Stockwerke oder gleich ganze Gebäudeflügel ohne den Einsatz von schwerem Gerät abzutragen und die intakten Räume zu neuen Wohnungsgefügen zu verbinden.

Bleibtreustraße 48

So geschah es wohl in der Bleibtreustraße 48. Im Zentrum des Vorderhauses zeichnet sich bis heute ein Bombenkrater ab. Links zählt das Haus noch zwei Obergeschosse, rechts steigt es stufenweise zu seiner ursprünglichen Höhe von fünf Stockwerken auf. Zwischen diesen Gebirgszügen windet sich ein seichtes Tal, aus dem einzig ein paar gekappte Schornsteine wie vom Wind verstümmelte Baumstämme erwachsen. Es ist nicht ganz klar, wie die oberen Räume erschlossen werden, nun da das zentrale Treppenhaus nicht länger zu ihnen hinaufreicht. Wahrscheinlich wurden die Dienstbotenaufgänge in den Seitenflügeln ausgebaut, sodass sie sich als Haupteingänge eignen.

Der Nutzcharakter dieser Anlage täuscht ein wenig über den Schrecken hinweg, der dem Gemäuer eingeschrieben ist. Immerhin vermittelt es den Eindruck, als ließe sich der Einschlag der Fliegerbombe genau nachvollziehen. Ob sich auch alle Bewohner im Keller befanden, als es die oberen Stockwerke zerriss? Ein fürchterlicher Gedanke und doch geht er wohl nur den wenigsten Passanten durch den Kopf, die im Untergeschoss die Galerie Albrecht betreten oder nebenan bei Rose Rosa Dessous kaufen. So bringt der alltägliche Gebrauch die spezifische Geschichte des Gebäudes und seiner Bewohner zum Verstummen.

Wenn man den Bau allerdings aus einiger Entfernung auf sich wirken lässt, erscheint er mehr und mehr wie ein leerer Bilderrahmen, der das Nichts in seiner Mitte ausstellt. Ähnlich wie die Stolpersteine, auf die man in diesem Teil Charlottenburgs vor fast jedem Gebäude stößt, weist diese Rahmung auf den Verlust hin, den der Zweite Weltkrieg bedeutet. Denn sie erinnert daran, dass dort oben im nun mehr unerschlossenen Raum, wo sich allein noch die Wolken ballen, einmal Leben stattgefunden hat.

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